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Rekonstruktion einer antiken Stadt: Aventicum
Aventicum, das heutige Avenches, liegt am Murtensee in der Westschweiz. Der Name der Stadt ist abgeleitet von der helvetischen Göttin Aventia. Um 8 v. Chr. wurden der Helvetierstaat - Civitas Helvetiorum - und ein neuer administrativer Mittelpunkt, Aventicum, gegründet. Die Wahl des Standortes wurde bestimmt durch die große Durchgangsstraße durchs Schweizer Mittelland, die Nähe des Murtensees und die Qualität des Baugrundes.
Unter Claudius (41-54) änderte Aventicum sein Gesicht. Nach und nach wurden alle Häuser in Stein umgebaut. Der Tod Neros im Jahre 69 stürzte das Reich in politische Wirren, in deren Verlauf die römische Armee die Höfe und Dörfer des Mittellandes plünderte. Tacitus, der einen lebendigen Bericht dieser Ereignisse gab, schilderte den Vormarsch der Truppen gegen Aventicum, das bei dieser Gelegenheit als Caput Gentis, Hauptstadt des Volkes, bezeichnet wurde. Unter Vespasian (69-79) wurde Aventicum eine Kolonie. Eine Stadtmauer entstand. Die Wirtschaft erhielt neue Impulse, was sich in vermehrter Bautätigkeit niederschlug. Der Ausbau des Forums mit Tempel und Basilika geschah spätestens in dieser Zeit. Den größten Aufschwung nahm Aventicum zu Beginn des 2. Jahrhunderts. In trajanischer Zeit (98-117) begann der Bau des Cigogniertempels, des Theaters und der Weiterausbau der Stadtmauer. Andere Bauten, wie das Amphitheater, Aquädukte und Thermen, entstanden ebenfalls im 2. Jahrhundert. Ein etwa 800 m langer Kanal und ein neuer Hafen in der Nähe der Stadtmauer erlaubten den Antransport des nötigen Baumaterials. Das Forum wurde im Schnittpunkt der beiden Hauptachsen Decumanus Maximus und Cardo Maximus angelegt. Die Tempelanlagen, Thermen und Inneneinrichtungen wurden immer reicher. Die Stadt zählte damals über 20'000 Einwohner. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts begannen die Alemanneneinfälle. In aller Eile wurde auf dem stadtnahen Bois-de-Châtel ein Castrum, also eine kleine Festung, errichtet; die Ruinen Aventicums lieferten hierzu das Baumaterial. Nach dem Rückzug sämtlicher römischer Truppen südlich der Alpen im Jahre 401 war die gallo-römische Bevölkerung praktisch auf sich allein gestellt. Aventicum als Kleinstadt in Grenznähe verlor seine Vorrangstellung. Das heutige Avenches entstand auf einem bisher unbebauten Hügel innerhalb eines Mauerrings des 13. Jahrhunderts.
Ausgehend von dieser geschichtlichen Situation planten wir eine abstrakte Rekonstruktion Aventicums. Abstrakt deshalb, da wegen der zeitlichen Begrenzung von einem Semester eine streng wissenschaftliche und vollständige Rekonstruktion nicht in Frage kam. Es war nicht Ziel des Kurses, eine exakte archäologische und historische Rekonstruktion zu versuchen. Dazu sind Fachleute auf diesem Gebiet weitaus kompetenter [vgl.: Boegli, Hans: Aventicum. Die Römerstadt und das Museum. In: Achäologischer Führer der Schweiz. Nr. 20 (Association Pro Aventico) 1984]. Vielmehr bestand die Aufgabe darin, die antiken Bauherren und Architekten zu verstehen und eine architektonische Rekonstruktion vorzuschlagen. Dazu setzten wir neue Methoden ein, in denen der Modellcharakter des Entwurfs im Mittelpunkt stand. Die wenigsten Studentinnen und Studenten besaßen CAD-Erfahrungen, weshalb am Anfang eine intensive zweiwöchige Phase der Beschäftigung mit Hardware, Software und dem Netzwerk stand. Es folgte eine vierwöchige Einführung in Datenbankkonzepte, dreidimensionale Elemente, in die Instrumente der Parametrisierung, der Formen-grammatiken und der Fraktale, sowie in die Methode der Prototypen.
Erst danach konnte, ausgehend von einfachen Räumen bis hin zur Rekonstruktion des gesamten Forums, die eigentliche Rekonstruktionsarbeit beginnen. Die Studentinnen und Studenten wählten jeweils eine der über 40 im Stadtgebiet vorhandenen Insulae und bearbeiteten diese individuell. Das auf vernetzten Workstations installierte CAD-Programm gestattete durch das wahlweise Zuladen anderer Insulae entweder eine Gesamtschau der Stadt oder einzelner Projekte im Kontext ihrer Umgebung. Bei der Rekonstruktion konnten sich die Studierenden nahe an die historischen Vorlagen halten. Zu Beginn standen die Digitalisierung der noch vorhandenen Reste der Stadt, der Umgebung, sowie der wichtigsten archäologischen Funde. Danach begann die Anwendung der einzelnen Methoden und Instrumente.
(1) Datenbanken existierender Elemente. Bei jeder Ausgrabung werden Artefakte zutage gefördert, deren geometrische und nicht-geometrische Eigenschaften einmalig sind. Für solche Objekte bietet sich die Ablage in einer Datenbank dreidimensionaler Objekte an, ein Vorgehen, das inzwischen auch in der archäologischen Praxis zum Standard gehört. AutoCAD-Blocks, versehen mit den entsprechenden Attributen, liefern dazu die entsprechende Speicherstruktur. Die Elemente sind visuell über Pull-Down-Menus oder Pop-Up-Slides zugänglich. Typische Beispiele sind Möbel, römische Ziegel und Säulen. Studentinnen und Studenten konnten so ausgegrabene oder dokumentierte römische Gegenstände direkt aus einer entsprechenden Datenbank abrufen und in ihr Modell einsetzen. Dies entspricht dem Arbeiten mit einem ‘Kit-of-Parts‘, mit dem Teile unverändert übernommen werden müssen, aber in beliebiger Zahl und Position kombinierbar sind. Eine ähnliche Option bieten die meisten kommerziellen CAD-Programme heute für Standardelemente.
(2) Datenbanken parametrisierter Elemente. Objekte unterscheiden sich oft nur durch wenige Eigenschaften. Kann man diese identifizieren und die Grenzen bestimmen, innerhalb derer die Variation stattfindet, ist ein Parameter erkannt. Parameter können die Geometrie, die Farbe, das oder sonstige Eigenschaften sein. So finden sich Säulen, deren Höhe innerhalb gegebener Grenzen variiert, deren Proportionen jedoch konstant bleiben, oder solche, die bei konstanter Höhe verschiedene Proportionen aufweisen. Ein anderes Beispiel sind runde Steintische, deren Durchmesser innerhalb durch das Material bestimmter Grenzen variieren kann. In der ebenfalls auf Auto CAD-Blocks basierenden Datenbank befinden sich daher Elemente, deren Topologie bestimmt und deren endgültige Geometrie durch einen oder mehrere Parameter definierbar ist. Den Werten der Parameter sind Grenzen gesetzt, die mit den Objekten gespeichert sind. Die Parameter und ihre Grenzwerte wurden über modifizierte Pop-Up-Menus eingegeben. Weitere parametrisierte Elemente waren Treppen, Geländer und Balken. Datenbanken parametrisierter Elemente finden sich ebenfalls bereits in einigen kommerziellen CAD-Systemen.
(3) Regelbasierte Systeme und fraktale Algorithmen. In dieser Übung untersuchten wir zum erstenmal die praktische Anwendung der Instrumente Formengrammatiken und Fraktale. Flemming [Flemming, Ulrich: The role of shape grammars in the analysis and creation of designs. In: Y. Kalay (Hrsg.): Computability of design. New York 1986, S.245-272] und Mitchell [Mitchell, William J.: The logic of architecture. Cambridge, MA 1990] beschreiben deren Verwendung im Entwurf. Shape Grammars erwiesen sich als eine effiziente Hilfe bei der Konstruktion von geometrisch definierbaren Objekten, anwendbar in der Modellierung von Treppen bis hin zur Rekonstruktion mittelalterlicher Kathedralen oderund Bäume. Ihre Anwendung für die Rekonstruktion bedingt allerdings, daß die dem Aufbau zugrunde liegenden Regeln erkannt, isoliert, und durch entsprechende Mechanismen verknüpft werden. Der Prozeß der Zerlegung eines Objektes in Rekonstruktionsregeln ist dann nicht umkehrbar, wenn auch nur die kleinste Abweichung in den Regeln oder den Verknüpfungen zugelassen wird. Allerdings ist gerade diese Tatsache in der Generierung neuer Objekte aus bekannten Regeln interessant.
(4) Relationale Prototypen. Damit bezeichnen wir zwei- und dreidimensionale funktionale Prototypen von Gebäuden, die bereits einiges Wissen über sich selbst besitzen. Beispiel ist der relationale Prototyp einer römischen Therme, der weiß, welche Räume zu diesem Gebäudetyp gehören, welche Proportionen und Dimensionen die Räume haben dürfen und welche Relationen bestehen müssen oder dürfen. Während des interaktiven Entwurfs gibt das Programm Kommentare, falls gegen die funktionalen Regeln verstoßen wird.
(5) Intelligente Prototypen. Prototypen kombinieren die Merkmale aller bisher beschriebenen Methoden. Sie sind parametrisiert. Die Parameter bewegen sich innerhalb gegebener Grenzen und stehen untereinander durch definierte Relationen in Verbindung. Die Änderung eines Parameters kann eine ganze Reihe Änderungen anderer Parameter nach sich ziehen. Beispiele sind römische Tempel oder Theater, die sich innerhalb eines Typs durch viele Gemeinsamkeiten auszeichnen. Im Fall des Tempel-Prototyps wählt der Anwender die Art des Tempels zunächst aus und bestimmt danach alle Parameter graphisch auf dem Bildschirm. Der Speicherbedarf für Objekte, die nach den einzelnen Methoden erzeugt werden, ist sehr unterschiedlich. Datenbanken individueller 3D-Objekte wachsen sehr schnell an. Bei parametrisierten 3D-Objekten ist die Topologie nur einmal gespeichert, für alle folgenden sind lediglich die Werte der Parameter verschieden. Noch kompakter ist die Speicherung in Form von wenigen Entwurfsregeln und deren Verknüpfung. Prototypen, als Objekte im Sinn des objektorientierten Programmierens zusammen mit den dazugehörenden Operatoren gespeichert, sind ebenfalls nicht sehr speicherintensiv. Sie sind der menschlichen Vorstellung von Objekten möglicherweise nahe verwandt und daher sogar in Quellencodeform leichter verständlich als lange Listen unstrukturierter Koordinatenpaare.
Alle Methoden waren innerhalb eines kommerziellen CAD-Programms abrufbar und frei kombinierbar. Sie bildeten keine inkompatiblen Inseln, sondern konnten jederzeit miteinander verbunden werden. Mit wachsender Komplexität der Operationen und Objekte stießen die Studentinnen und Studenten schnell an die Grenzen der Hardwarekapazität. Mit Absicht wählten wir für den Kurs ein historisches Thema mit Schwergewicht auf die Rekonstruktion innerhalb fester Grenzen, da hier die mit dem Computer möglichen Ansätze besonders zum Tragen kommen konnten. Für neuartige Probleme wäre eine Beschränkung auf die oben beschriebenen Methoden sehr fraglich. Sie sind nützlich bei der Lösung von wohl definierten Teilproblemen im Entwurf und zeigen, daß Simulation nicht nur für zukünftige, sondern auch für vergangene Architektur Bedeutung hat.
(Gerhard Schmitt 1993)
Das Projekt bildete durch die verwendeten Methoden und Instrumente eine Grundlage für die CAAD Wahlfachkurse der folgenden 7 Jahre. Weitere Anwendung fanden die Programme in einer Seminarwoche. Allerdings wurden die Programme erweitert und abstrahiert.